Hessisch Niedersächsische Allgemeine 12. Juni 2002 Ein Lehrhaus, das kein Haus istAm Wochenende wird in Göttingen feierlich das neue Jüdische Lehrhaus eröffnetGÖTTINGEN. Mit einem Konzert und einem Festakt unter Schirmherrschaft von Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) wird am kommenden Wochenende in Göttingen das Jüdische Lehrhaus eröffnet. Bei der neuen Einrichtung handelt es sich nicht um ein Haus im wörtlichen, sondern im übertragenen Sinn: um einen Ort, an dem sich Interessierte mit der jüdischen Lehre und dem jüdischen Leben auseinandersetzen können.„Wir sind keine religiöse Einrichtung. Wir sind für das Lernen da", erklärt Eva Tichauer Moritz, Vorsitzende des Vereins Jüdisches Lehrhaus. Darum sei man ausdrücklich auch offen für Nicht-Juden. Die Mitglieder des Vereins - nach Auskunft von Tichauer Moritz rund 30 an der Zahl - seien sogar zu zwei Dritteln nicht-jüdisch. Noch habe man keine festen Räumlichkeiten, um sich zu treffen, sondern genieße Gastrecht beim Verein Arbeit und Leben. Das Jüdische Lehrhaus Göttingen ist angelehnt an das von 1920 bis 1927 in Frankfurt bestehende „Freie Jüdische Lehrhaus", das von Franz Rosenzweig gegründet wurde. Der Begriff „Lehrhaus" gehe aber auf eine 2000-jährige jüdische Lerntradition zurück, so EvaTichauer Moritz: Gelernt wurde teils allein, vorzugsweise aber in Gemeinschaft im Lehrhaus, laut den Text wiederholend, einprägend, auswendig lernend, aber auch im Zwiegespräch diskutierend und argumentierend. Durch die Aufklärung und andere Entwicklungen der Neuzeit habe das Judentum in Deutschland und in ganz Mittel- und Westeuropa einen Bruch erlitten, sagt Tichauer Moritz. In einem fortschreitenden Prozess von Emanzipation und Anpassung hätten die europäischen Juden ihr gemeinsames jüdisches Bewusstsein aufgegeben. Der jüdische Glaube sei zu einer „Privatkonfession" des Einzelnen geworden. Hier nun setzt das Göttinger Lehrhaus an: Es wolle denen die Rückkehr zum Judentum eröffnen, so Tichauer Moritz, für die ihre Religion längst etwas Fremdes geworden sei. Gleichzeitig soll denjenigen ein „Lern-Dialog" ermöglicht werden, denen das Judentum viel bedeute, obwohl sie keine Juden seien. Für einen feierlichen Rahmen ist bei der Eröffnung des Lehrhauses gesorgt. Am Samstag, 15. Juni, findet ab 20 Uhr ein Konzert im Alten Rathaus statt. Die Kantorin Mimi Sheffer wird Lieder aus der Schabbat-Liturgie und zu den Hohen Festtagen singen. Am Flügel begleitet wird sie von Erica Schulmeister. Die Karten für dieses Konzert kosten 15 Euro (ermäßigt: 5 Euro). Es gibt sie im Vorverkauf bei der Buchhandlung Hertel (Kurze Straße 14, 7, 05 51 - 5 64 08) sowie im Briefmarkengeschäft Himme (Weender Straße 68, 7) 05 51 - 4 14 01) in Göttingen, außerdem bei der Buchhandlung Winnemuth (Rosenstraße 17, 71 0 55 41 - 87 68) in Hann. Münden. Beim nicht-öffentlichen Festakt, der am Sonntag, 16. Juni, um 16 Uhr im Alten Rathaus beginnt, hat das Jüdische Lehrhaus prominente Gäste geladen: Den niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel, der als Schirmherr auftritt, die Wiener Professorin und Rabbinerin Dr. Eveline GoodmanThau sowie Prof. Dr.Thomas Buergenthal. Buergenthal, der heute als Richter des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag arbeitet, ist der Hauptredner des Festprogramms. Als Sohn der Göttinger Jüdin Gerda Silbergleit geboren, verbrachte er mehrere Jahre im Ghetto Kielte, und im Konzentrationslager Auschwitz, überlebte den Todesmarsch sowie die anschließende Zeit im Lager Sachsenhausen. Im Alter von zehn Jahren wurde er aus dem KZ befreit. Später kehrte er nach Göttingen zurück. Hier lebte er bis zu seiner Auswanderung in die USA. (SÜM)
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Hessisch Niedersächsische Allgemeine 18. Juni 2002 Hoffnung auf ein gutes MiteinanderMit einem Festakt wurde am Sonntag das neu gegründete Jüdische Lehrhaus in Göttingen eröffnetVon Ulrich HagemeierGÖTTINGEN. In den vergangenen Wochen sind sie wieder zutage getreten, die antisemitischen Ressentiments. Ausgelöst durch die Diskussion um die Aufnahme des umstrittenen Politikers Jamal Karsli in die FDP und freudig aufgegriffen an deutschen Stammtischen, sorgten die antijüdischen Vorurteile plötzlich wieder für Irritation, Trauer und Furcht bei den jüdischen Mitbürgern. Von dieser Stimmung war bei der Eröffnung des Jüdischen Lehrhauses in Göttingen am Sonntag glücklicherweise nichts zu spüren: Die Zuversicht, dass jüdisches Leben in Deutschland möglich und gewollt ist, und die Freude darüber, dass man mit dem Göttinger Lehrhaus an eine 2000 Jahre alte Lerntradition anknüpfen kann, überwogen beim Festakt im Alten Rathaus. Sigmar Gabriel (SPD), Schirmherr der Veranstaltung, lobte die Initiatoren des Lehrhauses für ihr Engagement: „Ich bin Ihnen dankbar, dass sie mit ihrer Kultur und ihren Traditionen unser Land bereichern", so der Ministerpräsident. Zuversicht war auch dem Festvortrag zu entnehmen: Prof. Dr. Thomas Buergenthal zeigte, wie aus Todesangst und Hass wieder die Hoffnung auf ein gemeinsames Miteinander erwachsen kann. Im Jahr 1934 wurde Buergenthal, der heute am Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag wirkt, in Göttingen geboren: „Kein gutes Jahr für jüdische Kinder in Europa", so begann der Richter die Erzählung seiner Lebensgeschichte: Die Emigration nach England war schon in greifbarer Nähe, da wurde die Familie Buergenthal von den Nationalsozialisten ins polnische Ghetto Kielce, später ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Hier wurde der zehnjährige Thomas von seinen Eltern getrennt, die Nazis erschossen den Vater noch kurz vor Kriegsende im KZ. Der kleine Thomas jedoch hatte „Glück". Er überstand den Todesmarsch von Auschwitz ins KZ Sachsenhausen, wo er im Januar 1945 von russischen Soldaten befreit wurde. „Ich bin einer der jüngsten, die Auschwitz überlebt haben" - eine Tatsache, die Buergenthal auch mehr als 50 Jahre nach Kriegsende noch kaum fassbar scheint. Erst 1946 konnte er zu seiner Mutter zurückkehren, die inzwischen wieder in Göttingen lebte. Der Jurist verschwieg am Sonntag auch nicht seinen Hass, den er anfangs auf die Deutschen gehabt hatte. Die Freundschaft zu Mitschülern, die in ihm nicht „den Juden", sondern den Menschen Thomas Buergenthal sahen, habe ihm geholfen, seine Rachegefühle zu überwinden. Doch obwohl er sich nach Kriegsende in Göttingen „nie unwillkommen" fühlte, wanderte Buergenthal 1951 mit seiner Familie in die USA aus, um einen neuen Anfang zu machen. Aus der räumlichen und zeitlichen Distanz blickt Buergenthal heute zuversichtlich auf Deutschland und ist überzeugt, dass ein Miteinander der Göttinger und ihrer jüdischen Mitbürger in Frieden und Freundschaft möglich ist. Dieses Zusammenleben zu fördern, ist auch ein Ziel des neuen Jüdischen Lehrhauses, wie Eva Tichauer Moritz betonte. Die Aufgabe dieses - nur symbolischen -Hauses sei es, einen Dialog mit dem Gegenüber zu entwickeln, so die Vorsitzende des Vereins. Diesen Diskurs, auch wenn er antijüdische Positionen mit einbezieht, hält auch Buergenthal für wichtig: „Über schwierige Dinge sprechen zu können, ist Zeichen einer gesunden Demokratie", so sein Schlusswort. (LNI)
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