Samstag, der 10. November 2007
Lehrhaus zum Thema: "Exil"
Veranstaltung mit Kantor Francois Lilienfeld
Die LANGE NACHT DER ERINNERUNG fand in diesem Jahr an einem Samstagabend statt, da der 9. November
auf EREV SCHABBAT fiel.
Am Abend des 10.November 2007 ab 19°° wurde unter Anleitung des Kantors Francois Lilienfeld die 'Lange Nacht der Erinnerung'
begangen, die in der Hauptsache Überlegungen zum Thema Exil gewidmet war. Da der 9. November auf einen Schabbat fiel, wurde
die Nacht des darauffolgenden 10. November gewählt.
Es hatten sich ca.15 Teilnehmer eingefunden. Für diejenigen, die es nicht wussten, wurde die Stellung des Kantors in der
jüdischen Gemeinde erklärt: er singt die liturgischen Texte und leitet die Gottesdienste. In der evangelischen Kirche ist
der Kantor der Organist und Chorleiter.
Auch die Hawdalah wurde erklärt. Sie ist das Gebet am Ende des Schabbat, ist ein Gebet zur Trennung des Heiligen von dem
Alltäglichen. Das Schabbat-Ende wird mit einem Schluck Wein besiegelt, dann wird eine Kerze angezündet, möglichst von einem
Kind, bei uns war es eine anwesende junge Frau. Es wird an Gewürzen gerochen um noch einmal an die Segnungen des Schabbat
zuerinnern, das Gebet wird verlesen und danach wird das Licht mit Wein gelöscht.
Die Gedanken zum Thema Exil.
Eingeleitet wurde der Abend mit einem Zitat von Carl Zuckmayer,Aufbau, 20. März 1942: 'So schlagt den Mantel um die Schulter
und zögert nicht, weiterzugehen in der Nacht.'
Exil, die Erfahrung eines Lebens in einer anderen als der angestammten Umgebung, trifft so gut wie jedes Volk auf der Erde,
fast kein Volk ist ausgenommen von der Exilerfahrung. Die Gründe dafür sind vielfältig: Hungersnot, Arbeitslosigkeit zum
Beispiel bewirkten die Auswanderung der Iren nach Amerika. Weitere Gründe auszuwandern: Naturkatastrophen, Politische
Verfolgung, Kriegerische Auseinandersetzungen. Es wurden in diesem Zusammenhang kurz die wichtigen Begriffe geklärt:
1. Emigration: Verlassen des Landes.
2. Immigration: Einwanderung in ein Land um dort zu bleiben.
3. Verschleppung: Es wird den Betroffenen keine andere Wahl gelassen.
Unser Interesse galt besonders den Erfahrungen des jüdischen Volkes, alle Formen des Exils sind bei ihm mehrfach vertreten.
Jaakob flüchtete vor einer Hungersnot nach Ägypten zum Beispiel. Das berühmteste Exil in der alten Geschichte ist das
babylonische Exil von 585 - 537 vor unserer Zeitrechnung. Nebukadnezar hat Jerusalem erobert und den Großteil der Juden,
bis auf wenige Landarbeiter, verschleppt. Es war so, dass die Region dann entvölkert blieb, so dass die Judäer, als sie
zurückkamen, wieder aufbauen konnten. Das Exil in Babylon hatte verschiedene, durchaus positive Auswirkungen. Trotz der
strengen Gesetze Nebukadnezars erlebten die Juden in Babylon Selbstbesinnung und Konzentration als Volks- und
Religionsgemeinschaft. Es gab keinen Kontakt zu anderen Religionen. Eine wichtige Figur in diesem Zusammenhang war
Isaias (2.). Als sie zurückdurften, waren die Juden als Gemeinschaft gestärkt und der Zusammenhalt gefestigt. Etliche von
ihnen blieben in Babylon zurück und bildeten die 1. Diaspora.
Nach der Zerstörung des 2. Tempels, im Jahr 70 unserer Zeitrechnung, waren Exil und Diaspora ein Dauerzustand für das
jüdische Volk. Es entstanden aber im Laufe der Jahrhunderte blühende Gemeinden und Kulturen, wenn auch oft unter
Schwierigkeiten. Sie hörten nicht auf, sich auf Jerusalem zurückzubeziehen getreu dem Psalm 137, Buch der Preisungen:
"Vergesse ich Jerusalem dein, meine Rechte vergesse den Griff" (nach Martin Buber, Jakob Heyner in Köln & Olten MCMLXII).
Die jüdische Kultur im mitteralterlichen Spanien ist ein hervorragendes Beispiel für vielfältige Entwicklung jüdischer
Lebensformen im Exil.Es entwickelte sich eines der großen Zentren der Thora in Spanien, bis 1492 dieser Situation ein
Ende bereitet wurde, es blieb nur Tod oder Taufe, oder erneute Emigration. Die sefardischen Juden gingen meist nach
Nordafrika aber auch nach Amsterdam, Antwerpen, Hamburg und gründeten dort neue Gemeinden.
Jüdisches Leben in New York liegt uns zeitlich näher.
Ab 1880 wurde die Situation für die Juden in Russland unerträglich und die idee, nach Amerika auszuwandern, verbreitete
sich. Dort gab es keine Pogrome und vielfältige Arbeitsmöglichkeiten. In die jüdischen Zentren in New York kamen auch
Dichter und Musiker, für die die neue Umgebung zahlreiche Anregungen bot. Man verfasste Gedichte nicht mehr über die
russischen Weiten, sondern nahm das moderne städtische Leben zum Gegenstand, die Wolkenkratzer, den Verkehr auf den Straßen.
Die Klezmorim hatten Kontakt zu Jazzmusikern, wie vorher zur Musik der Zigeuner. Es kam hinzu, dass in Amerika die Medien
weiterentwickelt waren und alles Entstehende schnell publik und leichter verbreitet wurde, eine kulturelle Explosion war die
Folge.
In Europa war ein großes Zentrum der Diaspora das Deutsche Reich, der deutsche Sprachraum und Deutschland nach 1871.
Die Juden kamen mit den römischen Legionen im 4. Jahrhundert nach Worms, Speyer, Köln und entlang der römischen Besiedlung
von Rhein und Donau. Im jüdischen Deutsch am Rhein sind deshalb sehr viele romanische Elemente erhalten.
Die Geschichte der Juden war bewegt, durchsetzt von ständigen Vertreibungen und Wiederansiedlungen. Sie waren eine Art
Lebensversicherung für die Herrscher denn sie durften, was Christen nicht erlaubt war, Geld als Pfand ausleihen. Wenn ein
Herrscher in ökonomische Bedrängnis geriet, konnte er die Juden vertreiben und bekam dabei leicht Unterstützung, denn ihr
Geld und ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Bleiben konnten sie nur unter zum Teil unterschiedlichen Regeln.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts breiteten sich die Ideen der Aufklärung, die Vorstellung von gleichen Rechten und gleichen
Pflichten der Menschen, aus, auch die Juden beschäftigten diese Entwicklung, Friedrich II. von Preußen eher halbherzig,
Joseph II. ging weiter als er. Seine Mutter Maria Theresia hasste Juden und Ihr Sohn Joseph reagierte darauf mit besonderem
Engagement.
Die Emanzipation breitete sich mit von Ort zu Ort verschiedenen Folgen aus, teilweise immer wieder zurückgenommen. Eine
treibende Kraft in Preußen war Moses Mendelson. Er wat für den Kontakt mit der Bevölkerung, für ein Herausgehen aus dem
Ghetto, Kontakt mit Gleichgesinnten, ohne Aufgabe des eigenen Glaubens allerdings. Lessing war sein bester Freund, der mit
ihm Gedanken entwickelte, wie er sie in seinem Stück "Natan der Weise" vertrat. Die Freunschaft zwischen essing und Mendelsohn
hat viel dazu beigetragen, dass in der gebildeten Bevölkerung allmählich die Gedanken der Emanzipation aufgenommen wurden und
auch die Juden sich zunehmend mehr als Deutsche fühlten.
Napoleon hat mit seiner Gesetzgebung die Emanzipation verbreitet, die nach ihm wieder zurückgenommen wurde. Geblieben aber war
der Anstoß durch Napoleon und 1842 gab es ein erstes Gesetz zur Gleichstellung der Juden auf deutschen Boden.
An dieser Stelle wurden die Gedanken zur Entwicklung jüdischen Lebens durch eine musikalische Pause unterbrochen. Wir hörten
den 1. Satz des f-moll-Quartetts von Ludwig van Beethoven, gespielt von dem Busch Quartett. Die Brüder Busch waren zu ihrer
Zeit die bekanntesten Kammermusiker der Welt. Sie waren nicht jüdisch, emigrierten dennoch nach Dänemark und nach England. Die
Aufnahme, die wir hörten stammt von 1932.
Es sollten Arbeitsgruppen gebildet werden nach folgenden Themen:
1. Thema Wie
baue ich im Exil eine Zeitung, eine Zeitschrift, einen Verlag auf?
Als Beispiel diente die Zeitschrift der ‚Orient', sie erschien vom 10. April 1942 - 1943, ein Jahr in Jerusalem. Sie war das
Sprachrohr der sogenannten ‚Jeckes', der deutschen Juden. Es war für sie leichter gewesen, nach Palästina zu kommen, als in die
USA. Sie warteten darauf, zurückzukehren und ihre Neugründungen waren durch die englische Militärregierung begrenzt. Also nahm
man den Namen einer erloschenen Zeitung ‚Orient'. Die Gründer waren Wolfgang Jurau und Arnold Zweig (ein Kommunist),
Mitarbeiter u.a. Herrmann Hesse. Die Zeitung sah sich nicht als Organ der Emigrantenliteratur, sie bestand auf ihrem
Deutschtum. Deshalb wurde die Redaktion bedroht, sogar mit Bombenanschlägen. Der ‚Orient' wurde wiederveröffentlicht
bei Gerstenberg in Hildesheim 1982.
Die Tageszeitung ‚Aufbau' dagegen wurde 1934 in New York gegründet als Heimat in der Fremde für deutsche Juden und Nichtjuden,
die froh waren, eine deutsche Tageszeitung zu haben. Heute existiert der ‚Aufbau' noch als Monatszeitschrift und wird in
Zürich verlegt. Die ‚Aufbau' war auch eine Möglichkeit für Literaten im Exil in deutscher Spravhe zu publizieren. Berthold
Viertel war Mitarbeiter, auch Mascha Kaleko und viele andere.
Stefan Zweig sagt 1941: "ein Schriftsteller kann sein Land verlassen, aber nie seine Sprache."
2. Thema (30iger, 40iger Jahre) Was für ein Problem
erwarten Dichter, Schriftsteller, Schauspieler in den USA? Welche Rolle spielte dabei der Film?
An dieser Stelle gab es wieder eine Musikpause. Der Bass Alexander Kipnis sang in einer Aufnahme von 1938 (10, April). 1891 in
Schintomir in der Ukraine geboren, war er seit 1931 amerikanischer Staatsbürger. Er arbeitet in Berlin und Wien solange es
konnte und ging erst spät nach Amerika und starb dort 1978.
3. Thema Wie erhalte
ich meine Identität im Exil? Wie erhalte ich Volks-Religions-Klassenzugehörigkeit? Sollte man sich politisch betätigen? Wie
ist das Verhältnis zur neuen Sprache und zur Muttersprache?
An dieser Stelle gab es wieder eine musikalische Pause: das Kol Nidrei von Arnold Schönber. Arnold Schönberg wurde in der
Jugend getauft, ging aber in California zurück zum Judentum und auch musilalisch zurück zu hergebrachten Formen. Wir hörten
eine Aufnahme, die von Pierre Boulez dirigiert und vom BBC Orchester gespielt wurde.
In zwei Arbeitsgruppen wurden hauptsächlich Gedanken zu Thema 3 und 4 entwickelt, vorgetragen, diskutiert und ergänzt.
Die Eingliederung in der fremden Umgebung hängt sehr häufig von der Fähigkeit zum Spracherwerb ab. Es kam auch darauf an, in
welches Land jemand ging und welcher Bedarf an Arbeitskräften dort herrschte. In Israel war ein großer Bedarf an Landarbeitern,
diese Arbeit mussten u.U. auch ganz anders Ausgebildete leisten können.
Konflikte entstanden durch die unterschiedliche ökonomische Situation der Zuwanderer. Das Exil überbrückte nicht die
Klassenunterschiede oder nur in Ausnahmen.
In der Schweiz, in England und Amerika wurde den Immigranten geholfen, aber: man suchte nicht den menschlichen Kontakt.
Zu der Frage von Erhaltung der Identität in einem Land, gab es die Antwort, dass das Leben zwei Seiten entwickelte, eine
private, häusliche und eine öffentliche im Zusammenhang mit der Umgebung.
Es gibt immer wieder Exilanten, so wie Stefan Zweig, die mit der psychologischen und auch der praktischen Verarbeitung der
neuen Situation nicht zurecht kommen.
Das Leben im Exil verliert seine Hintergründlichkeit nicht, es bleibt die Sehnsucht nach dem anderen, früheren Leben,
zurückgelassenen Verwandten, Freunden, Landschaften.
Wir hörten Heines ‚Nachtgedanken' und beendeten gegen Mitternacht unsere Zusammenkunft.
Zur vertiefenden Lektüre konnten wir Kopien mitnehmen aus:
Hellmuth Stern 1938 "Überleben in der Mandschurei"
Stefan Zweig 1940 "Tagebuch"
Heinrich Heine "Nachtgedanken"
Berthold Viertel 1940 "Aufbau" (Ein Gedicht zum Emigrant sein)
Psalm 137 nach Martin Buber
Zur weiteren Information lagen aus:
Stefan Zweig: Reconsidered, New Perspectives in Literary and Biografical WritingsE dited Mark H. Gelber Niemeyer 2007.
Stefan Zweig: Tagebücher
Hellmuth Stern: Saitensprünge, Transit 1999 (H. Stern war ab 1960 erster Geiger der Berliner Philharmoniker
Stefan Zweig rororo biografie
Zusammengefasst von Christine Fürst Jüdisches Lehrhaus Göttingen
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