Rosenzweig will eine vollkommene Bewußtheit von Sprache erreichen. Dazu genügt es nicht, eine oder mehrere Fremdsprachen neben der eigenen zu lernen, sondern es soll ein Gerüst entstehen, in das der Lernende bei Bedarf leicht eine neue Sprache einbauen kann. Im alten Stil gelernt wird in der neuen Reichsschule nur Griechisch als die Sprache der großen überzeitlichen Klassiker und zwar von Anfang an in vielen Wochenstunden, so daß der Schüler bald mit der Lektüre der Literatur beginnen kann. Deutschunterricht ist und bleibt der Mittelpunkt des Sprachunterrichts. Es wird weniger Wert auf den Aufsatz gelegt, der in allen Fächern geübt werden kann, sodann auf historische Grammatik, Wortkunde, Wortbildung, überhaupt auf das Erkennen von Sprachstrukturen, die dann den Grund zum Vergleich mit anderen Sprachen geben. Solcher Vergleich wird in den ersten beiden Jahren vor allem mit germanischen Sprachen angestellt, Englisch besonders, aber auch Niederländisch und skandinavische Sprachen. Dann kommt mit den romanischen Sprachen ein weiterer Stoff hinzu. Und schließlich führen die slawischen - russisch, polnisch, bulgarisch - noch tiefer in die indogermanische Verwandtschaft hinein. Dabei dachte Rosenzweig sogar daran, jeweilige Grenzsprachen und Dialekte in den Unterricht mit einzubeziehen. In den obersten Klassen sollen dann auch noch außereuropäische Sprachen betrachtet, um durch den Kontrast das Eigene noch deutlicher werden zu lassen und dem werdenden Menschen eine Ahnung von der Vielfalt der Völkerwelt zu geben. So könnte, je nach dem Vorhandensein von Lehrern, etwa Arabisch, Türkisch, Chinesisch, ein afrikanischer Dialekt betrachtet werden.
Besonders bemerkenswert ist, daß das Deutsche eingebettet erscheint in die Gemeinschaft erst naher, dann aller Sprachen. Im Bereich von Geschichte und Literatur ist es ebenso. Das Deutsche ist nur eine Sprache oder Geschichte unter anderen; aber sie ist meine Sprache, meine Geschichte. Das soll der Schüler fühlen und wissen. Doch soll er auch Eigenart und Schönheit anderer Sprachen oder Dichtungen kennen und lieben lernen, um aus einem tieferen und kritischen Verständnis eine um so innigere Beziehung zum Eigenen zu bekommen.
Mit diesem weitgestreuten Material - und das ist wohl das Wichtigste an Rosenzweigs Bildungsprogramm - soll der Schüler nun lernen, selbständig zu arbeiten. Er soll angeleitet werden, selbst auf Entdeckungsreisen zu gehen, Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten zu finden, selbst an einer für ihn interessanten Stelle näher einzudringen und eine ihn persönlich angehende Arbeit anzufertigen. Der Schüler soll am Schluß seiner Schulzeit auf sprachlichem, naturwissenschaftlichem, historisch-literarischem Gebiet ein Gerüst besitzen und die Fähigkeit zu selbständig urteilendem Arbeiten. Er soll nicht mit Antworten vollgestopft, sondern zum Fragen und zum Finden einer eigenen Antwort angeregt werden.
Nach: Annemarie Mayer, Franz Rosenzweig – ein deutscher Jude, in: Werner Licharz und Manfred Keller (Hg.), Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. Bericht einer Beziehung, Frankfurt 1986, S. 9-34, hier S. 18 f.
Franz Rosenzweig, Zeit ist's ..., Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks. An Hermann Cohen,
Januar 1917:
Wir haben gelernt, daß mit der paragraphierten Berechtigung der Einzelnen wenig gewonnen ist. Solange man den Einzelnen zwar unter Umständen als Einzelnen gern mitwirken läßt, aber doch immer nur, indem man gegenüber der Tatsache seines Zugehörens zur Gemeinschaft nachsichtig ein Auge zudrückt, solange ist alles, was der Einzelne erreicht, selbst wenn er die Zugehörigkeit zu uns nicht verleugnet, höchstens materiell gesehen ein Nutzen für die Gemeinschaft, ideell gesehen aber nicht bloß kein Nutzen, sondern geradezu ein Schade. Die Gemeinschaft selber muß in eindrucksvoller Zusammenfassung nach innen wirksam, nach außen sichtbar werden, damit sie nicht trotz unserer persönlichen Anhänglichkeit, sowie wir heraustreten, uns von der Außenwelt als ein bestenfalls harmloser Makel nachgesehen wird. Nicht die Judenschaft zwar, wie die Reaktionäre der Mitte des 19. Jahrhunderts wollten, gilt es organisch zu verkörpern, aber das Judentum. Nicht judenschaftliche, sondern jüdischgeistige Organisationen gilt es zu schaffen. Der Geist des Judentums verlangt nach eigenen Heim- und Pflegestätten. Das jüdische Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen ist die jüdische Lebensfrage des Augenblicks.
Des Augenblicks. Denn wahrhaftig: die Zeit zum Handeln ist gekommen -
"Zeit ists zu handeln für den Herrn - sie zernichten deine Lehre" (Ps.119,126).