Franz Rosenzweig über die am 16. Oktober 1916 vom Kriegsministerium angeordnete "Judenzählung" an seine Mutter,
16. Februar 1917:


" 'Wir Deutschen' kannst du in Bezug auf Staatsangehörigkeit ruhig sagen, solange dieser so vortrefflich zählende Staat dich noch dazu 'zählt'. Das Volk (im Gegensatz zum Staat) zählt uns nicht, sondern (nach Bismarcks klassischem Wort) 'sieht es uns an' (Bismarck sagte einmal in einem christlich-germanischen Freundeskreise: 'Erfülle deine Bürgerpflicht, dann frag ich nach dem Glauben nicht' sei ihm nach dem Herzen. 'Auch für die Juden?' Bismarck: 'Die frag ich nicht, denen sehe ich es an')."

 
Die meisten deutschen Juden hatten – wie auch Rosenzweig - der offiziellen Propaganda geglaubt, nach der das Deutsche Reich Opfer eines feindlichen Überfalls geworden war und viele von ihnen waren daher als Kriegsfreiwillige an die Front gegangen, in der Hoffnung durch besondern Einsatz ihre nationale Zuverlässigkeit beweisen und damit endlich die vollkommene Gleichstellung der Juden erreichen zu können. 550 000 Juden lebten damals in Deutschland, knapp 100 000 von ihnen (jeder zweite wehrfähige Mann) standen an der Front; 12 000 von ihnen bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben. Doch die Hoffnung auf Gleichstellung und Emanzipation erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Schon Ende August 1914 hatten völkische Verbände mit der antisemitischen Propaganda begonnen und seit Ende 1915 wurde das preußische Kriegsministerium mit Beschwerden über „jüdische Drückerberger“ geradezu überschwemmt. Das Ende aller jüdischen Hoffnungen stellte dann die berüchtigte „Judenzählung“ dar, die im Oktober 1916 vom Kriegsminister vorgeblich zur Widerlegung des antisemitischen Vorurteils von der jüdischen „Drückebergerei“, in Wahrheit zu seiner Bestätigung angeordnet worden war. Diesen Erlaß empfanden national denkende und fühlende Juden als einen „untilgbar schmählichsten Schimpf, der unsere Gemeinschaft seit ihrer Einbürgerung schändete“, wie es der jüdische Kriegsfreiwillige und spätere Dozent des von Rosenzweig gegründeten Jüdischen Lehrhauses Ernst Simon stellvertretend für viele ausdrückte. Simon wurde nach dieser Erfahrung Zionist, Rosenzweig ging diesen Weg nicht mit: Sein Deutschtum blieb bis zu seinem Tode unangetastet konstitutiv für sein Denken.

 
Franz Rosenzweig