Die Rettung der Fakten
Das Werk als subkutane Geschichtsarbeit: Zum 80. Geburtstag des Frankfurter Historikers Arno Lustiger
VON HARRY NUTT

In einem vielleicht nicht zufällig entstandenen, aber auffällig zwanglos geführten Gespräch zwischen Arno Lustiger und dem Architekten war bald von einem Tunnelprojekt die Rede, über das Lustiger gern Neues in Erfahrung gebracht hätte. Er kannte den Tunnel gut. Als junger Mann hatte er zu einer Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter gehört, die dort, in der Nähe von Halberstadt, an der Errichtung einer unterirdischen Flugzeugfabrik mitwirkten. Was das Gespräch zu einem bewegenden Moment machte, lag nicht zuletzt an der Person des Architekten: Es war der Frankfurter Star-Architekt Albert Speer, der Sohn von Hitlers Baumeister, der Bauleiter der geheimen Flugzeugfabrik in jenen Kriegstagen war.

Drang nach Wissen

Das Bemerkenswerte aber war, dass die Szene für keinen Moment von Schuld oder Schuldzuweisung berührt war. Arno Lustigers Drang nach Wissen hatte jegliche Form von Peinlichkeit oder Beklemmung bereits im Ansatz vertrieben. Der Charakter dieses kurzen Gesprächs während einer Frankfurter Abendgesellschaft verrät bereits das meiste über die Methode Lustiger, die als Historiker-Projekt in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden hat, ohne dass sie je an akademische Gepflogenheiten gebunden gewesen wäre.

In seinen Büchern über die jüdische Widerstandsbewegung im spanischen Bürgerkrieg (Shalom Libertad) oder dem Rotbuch: Stalin und die Juden (beide im Aufbau Verlag erschienen) erweist sich Arno Lustiger kaum als Mann steiler Thesen oder großer Entwürfe. In seiner mit Akribie durchgeführten Arbeit geht es ihm zuallererst um die Anhäufung, man könnte auch sagen: Rettung von Informationen und Fakten. Arno Lustiger ist unermüdlicher Rechercheur einer subkutanen Geschichtsarbeit, der sich der Hebung des von den Fachhistorikern liegen gelassenen Materials verpflichtet hat. Eine Verpflichtung, die in der biografischen wie kollektiven Erfahrung begründet ist.

Arno Lustiger wurde am 7. Mai 1924 im westpolnischen Bedzin in der Nähe von Kattowitz als Sohn eines Kaufmannes geboren, der Maschinen für Bäckereien und Konditoreien vertrieb. Die Kreisstadt Bedzin war ein bedeutendes Zentrum jüdischer Kultur, und Lustiger wuchs, ohne streng religiös erzogen zu sein, inmitten einer selbstbewussten jüdischen Gemeinschaft auf, die in den folgenden Jahren umso stärker vom Naziterror erfasst und erschüttert wurde.

Als Arno Lustiger 21 Jahre alt wurde, hatte er die Konzentrationslager von Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen und zwei so genannte Todesmärsche überlebt und unbeschreibliches körperliches und psychisches Leid erfahren. Was für die nationalsozialistisch gesinnten Gleichaltrigen als juvenile Bewegung begann und bald ins Monströse umschlug, bedeutete für die polnischen Juden von Beginn an eine auf Dauer gestellte Todesbedrohung.

In seinem soeben bei Aufbau erschienenem Buch Sing mit Schmerz und Zorn. Ein Leben für den Widerstand skizziert Arno Lustiger seine Jugenderfahrung mit lakonischer Nüchternheit und dem Willen zum bloßen Verzeichnen. Dass dem nicht allein stilistische Eigenheit zu Grunde liegt, darauf verwies Lustiger im Rahmen der Vorstellung seines Buches im Hause seines Verlegers Bernd Lunkewitz. Das Verfassen autobiografischer Texte war lange von einer Schreibhemmung blockiert worden. Diese mit freundschaftlichem Druck gelöst zu haben ist nicht zuletzt auch eine verlegerische Leistung. Es ist ein Buch entstanden, das seine Spannung aus der Verknüpfung von Erlebtem und Durchlittenem mit unermüdlichem Forscherdrang bezieht. Der Holocaust-Überlebende Lustiger enthält sich schon um der Genauigkeit willen jeder Form von Pathos. Dabei gibt es in dem erst spät, nach zwischenzeitlicher unternehmerischer Tätigkeit, entstandenen schriftstellerischen Werk von Arno Lustiger sehr wohl so etwas wie eine emphatische Behauptung, die er in all seinen Arbeiten nie aus den Augen verloren hat. Lustigers Selbstverpflichtung zur Arbeit des Historikers dient entschlossen der Entmythologisierung jenes Stereotyps vom passiven jüdischen Volk, das sich willfährig zur Schlachtbank der Nazis hat führen lassen. Alles, was Arno Lustiger erforscht und geschrieben hat, ist letztlich Entdeckung und Beleg einer selbstbewussten jüdischen Aktivität.

Beispiellose Gelassenheit

Die Lebensgeschichte Arno Lustigers, die durch die Erfahrung des Holocaust zutiefst geprägt wurde und die in der nun vorliegenden Buchform eher Steinbruch als durchgearbeitetes Werk ist, darf heute als gelebter Beweis dieser These gelten. Darüber hinaus aber steht sie im Zeichen einer beispiellosen Gelassenheit. In Arno Lustigers an Tragik und Todeserfahrung gewiss nicht armem Lebensroman, in dem ein junger Journalist den großen israelischen Staatsmann Ben Gurion Fragen stellen durfte und viele Jahre später ein väterlicher Freund den Liedersänger Wolf Biermann auf die Spur von Yizchak Katzenelsons grandiosem Poem Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk setzen konnte, scheint noch immer die Sonne der einstmals kulturgesättigten Kleinstadt Bedzin, aus der es die Überlebenden der Familie Lustiger nach Frankfurt am Main verschlug.

Arno Lustiger hat sich Frankfurt nicht ausgesucht, er ist dort geblieben, als er keine andere Wahl hatte. Heute ist er einer der bedeutendsten Bürger Frankfurts schon deshalb, weil er immer noch aufs Neue unter Beweis stellt, dass Bürgerlichkeit kein Zustand ist, in den man bloß hineingeboren wird. Die Goethe-Universität Frankfurt hat dem kürzlich auf ihre Weise Rechnung getragen, indem sie Lustiger die Professorenwürde verliehen hat.



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Dokument erstellt am 06.05.2004 um 17:00:04 Uhr
Erscheinungsdatum 07.05.2004