Stellungnahme von Eva Tichauer Moritz, Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen e.V. sowie des Jüdischen Lehrhauses Göttingen e.V. zur geplanten Verlegung von Stolperstein in Göttingen im März 2015

Einmal Opfer – immer Opfer

zu: Stolpersteine erinnern an NS-Opfer, GT vom 22.1.2015 und Leserbrief Treten und Stolpern, GT vom 27.1.2015

Ich hoffte mehrfach – leider vergebens – mich selbst und auch im Namen der Jüdischen Kultusgemeinde nicht mehr zum leidigen Thema „Stolpersteine“ äußern zu müssen. Ich erinnere an frühere Aussagen:

Vor über zwölf Jahren hieß es von der Stadt(verwaltung), „…auf keinen Fall wollen wir die Stolpersteine hier in Göttingen…“. Heute dagegen verlautet aus dem Neuen Rathaus, „…es ist ein großer Moment“, ein „großartiges Projekt“. Welche Überlegungen, Argumente oder Gründe die Verantwortlichen seinerzeit und heute zu ihren gegensätzlichen Aussagen bewogen, wir wissen es nicht. Ehrlich gesagt, es interessiert uns auch nicht. Für uns ist es wichtig, wie wir als jüdische Menschen mit unserem Wissen und Gewissen vor diesen unsäglichen Platten im Straßenpflaster leben können/müssen.

Vor über zwölf Jahren hatten wir den „Künstler“ Gunter Demnig nach Göttingen eingeladen. Er kam mit seiner Frau in die damalige ESG in der von-Bar-Straße und hat dort versucht, die Beweggründe und Motive seiner „Kunst“ zu erklären und anhand von Dias zu zeigen: Zunächst wollte er Städte verbinden. Dazu stellte er ein Fass mit weißer Farbe auf ein Fahrrad, fuhr von einem Ort zum nächsten und „hinterließ“ eine weiße Linie. Als das „weiß“ zu langweilig wurde, habe er die Farbe mit Schweineblut gemischt und sei wieder von Stadt zu Stadt geradelt. Was diese „Kunst“ für Muslime bedeutet, kann sich jeder vorstellen.

Dann kam ihm die Idee mit „diesen Dingern“ (sein Wortlaut): Gemeint waren die sogenannten Stolpersteine. Als wir dagegen protestierten, weil die Steine im Straßenbelag verlegt werden sollten, fuhr seine Frau empört dazwischen und rief: „Ihr Juden habt hierzu nichts zu sagen!“ Aus Respekt vor mir selbst möchte ich das nicht kommentieren.

Im Jahr 2013 – das Thema kam erneut auf die Tagesordnung – trafen sich Frau Jürgenliemk von der Jüdischen Gemeinde Göttingen, Frau Schneider-Feller von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und ich für Jüdische Kultusgemeinde sowie Jüdisches Lehrhaus Göttingen zu einer Diskussionsrunde. Ergebnis waren drei mögliche Formen der Erinnerung an frühere jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Zum einen sollten Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II eingeladen werden, eigene Ideen zu konzipieren und sich einem Wettbewerb zu stellen. Eine zweite Möglichkeit sollte das Aufstellen von Stelen sein, auf denen in Augenhöhe Informationen über die in den jeweiligen Straßen ehemals wohnenden oder in ihren Geschäften arbeitenden und dann verschleppten/deportierten/ermordeten/in den Suizid getriebenen Juden angebracht würden. Drittens regte die Historikerin Dr. Cordula Tollmien – jetzt mit ihrem Werk über die Familie Hahn aktuell in der Berichterstattung – an, Tafeln mit den Namen, den Geschäftsbezeichnungen und Adressen der ehemaligen jüdischen Bewohner am Anfang und Ende der Straßen anzubringen, damit Interessierte diese Orte suchen und besuchen können.

Gleichzeitig wurde vereinbart, der Verlegung von Stolpersteinen im Einzelfall nicht zu widersprechen, wenn Nachkommen unbedingt auf der Verlegung eines Steins bestehen würden.

„Göttingen, die Stadt, die Wissen schafft“, hat sich im Kulturausschuss von der Kulturdezernentin Dr. Schlapeit-Beck informieren lassen, die drei Ideen wurden kurz genannt, aber im weiteren Verlauf nicht mehr erwähnt, stattdessen wurde nur über die Stolpersteine gesprochen. Auch die beiden Gesprächspartnerinnen der „Ideenrunde“ schwiegen; deshalb gab ich mich geschlagen und habe mit einem weiteren Mitglied von Kultusgemeinde und Lehrhaus diese „Show-Veran­staltung“ verlassen. Auf keinen Fall sollte unsere Abwesenheit als Zustimmung missbraucht werden.

Ich kann in diesem Zusammenhang nur der Stadt Braunschweig danken, die nicht akzeptiert hat, dass der Name „Tichauer“ (mein Onkel, der letzte Kantor der Stadt vor der Shoa und von zwei Frauen aus der Familie) auf der Straße liegt und mit Füßen getreten wird.

Jetzt heißt es in Göttingen, ein Kompromiss sei gefunden worden. Was heißt hier Kompromiss, wenn über die anderen drei Ideen nicht einmal gesprochen wurde? „So ein Ding“ (wörtliches Zitat von Gunter Demnig anlässlich seiner Präsentation vor über zwölf Jahren) soll nun verlegt werden, wenn Nachfahren und Angehörige einverstanden sind. Gleichzeitig hoffen die Initiatoren, dass es „im Verlauf des Projektes ein Umdenken geben“ wird. Mir wird richtig schlecht, wenn ich daran denke, dass jedes Opfer der Shoa eines dieser „Dinger“ bekommt. Stattdessen soll erneut über unsere Absprache einfach hinweg gegangen werden: Gut(e)Menschen entscheiden über uns Juden, letztlich sollen die Familien der Toten keine Chance mehr haben, sich gegen diese Entwürdigung zu wehren – ein schönes „Umdenken“.

Nicht nur ich frage mich, warum die InitiatorInnen der jetzt beschlossenen Aktion keine Ruhe geben, immer wieder darauf dringen, uns Juden bevormunden zu wollen und sich die Zustimmung willfähriger oder abhängiger Angehöriger unserer Glaubensgemeinschaft besorgen. Warum werden beispielsweise nicht einmal die Argumente der früheren Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch überhaupt in Betracht gezogen, die für München und Oberbayern einen Verzicht auf Stolpersteine allseits anerkannt durchgesetzt hat. Sind die bayerischen Politiker in Land und Kommunen, die Pastoren und Pfarrer in den christlichen Gemeinden und die Bürgerinnen und Bürger vielleicht etwas klüger als die Verantwortlichen der Universitätsstadt Göttingen?

Uns bleibt nur, Frau Notholt für ihren klaren Kommentar im Leserbrief vom 27. Januar zu danken. Und an die Stadt Göttingen appellieren wir: Lassen Sie unsere Toten endlich ruhen. Wir tragen sie jeden Tag in unseren Herzen und geben sie von Generation zu Generation – ledor va dor – weiter. Dafür brauchen wir Ihre Füße nicht.

Kümmern Sie sich lieber um die lebenden Juden in dieser Stadt. Schaffen Sie für die Älteren unter diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Möglichkeiten der Integration durch die Schaffung bezahlbarer kultureller Veranstaltungen. Sie werden es sehr danken. Um alle anderen Formen der Integration kümmern wir uns.